Leben in Erlangen heute
01 Eine Nacht über den Dächern
Der fiktive Patient Paul W. erlebt im Jahre 2014 eine hochmoderne Universität
Mitten in der Nacht wachte Paul W. auf. Das fahle Licht eines
fast vollen Mondes schien mitten in sein Ein-Bett-Zimmer auf der Urologischen
Station im Chirurgischen Bettenhaus an der Östlichen Stadtmauer Straße.
In seinem geräumigen Nassabteil hielt Paul die Hände unter den lichtschranken-gesteuerten
Wasserhahn und kühlte seine Finger. Dann strich er sich damit durchs Haar,
bevor er ans Fenster trat. Gegenüber, im Zentrum für Nieren- und Bluthochdruckkranke
des Kuratoriums für Heimdialyse, brannte nirgendwo mehr Licht.
Morgen, oder besser gesagt, heute würde sein großer Tag werden. Ausgerechnet
Paul war es: Der 10000. Patient, der mit der Protonen-Therapieanlage in Erlangen
behandelt werden sollte. Aus diesem Anlass hatte man seine Protonen-Bestrahlung
verschoben und statt dessen einen großen Festakt anberaumt. Und er, Paul
W. sollte dabei als Jubiläums-Patient geehrt werden.
Eigentlich, dachte sich Paul, wäre es mir lieber, sie könnten meinen
schmerzhaften Prostatakrebs gleich morgen schon bestrahlen, anstatt das Ganze
wegen des Festaktes zu verschieben. Lange genug hatte er sich mit diesem Leiden
herumgequält, lange genug hatte er andere Behandlungsmöglichkeiten
erwogen - und sich dann doch entschlossen, die von seiner gesetzlichen Krankenkasse
empfohlene Methode zu wählen.
01.01 Wettlauf gewonnen
"Am besten, Sie lassen das in Erlangen machen", hatte
der Experte von der Krankenkasse zu ihm gesagt, "da haben sie in ganz Europa
mit Abstand die längste Erfahrung mit der Protonen-Therapie gegen Tumorleiden".
Seit nunmehr fast neun Jahren war die Erlanger Anlage in Betrieb, Ende 2005,
als sie eingeweiht worden war, hatte die Betreibergesellschaft Lifebeam AG einen
erbitterten Wettlauf mit anderen Standorten gewonnen.
Heute, im Herbst 2014, konnte man über die damaligen Probleme nur noch
den Kopf schütteln: Inzwischen gab es vier solcher Protonenanlagen in Deutschland
und mehr als ein Dutzend in Europa.
Paul hatte keine Ahnung, warum er jetzt nicht schlafen konnte. War es der Mond,
der bevorstehende Festakt - oder doch die Bestrahlung? "Gegen einen Tumor
wie den Ihren sind die Protonen am wirksamsten und schonendsten", hatte
ihm der Experte von der Krankenkasse versichert.
01.02 Vorlesungen im Internet
Dass es für sein Unternehmen auch am kostengünstigsten
war, verriet er Paul nicht. Doch der wusste genau: Anfangs hatten sich die Kassen
geweigert, diese neue Methode zu bezahlen. Nur ziemlich betuchte Herrschaften
konnten sich in den ersten Jahren eine Protonen-Therapie leisten. Doch mit der
Zeit wurden die Erfolge offenkundig und die Akzeptanz stellte sich ein.
9999 andere haben das hier schon vor mir gut überstanden, sagte sich Paul
- doch ein bisschen müder wurde er davon nicht. Seufzend setzte er sich
auf das bequeme Wasserbett, zog den 24-Zoll-Bildschirm zu sich her und loggte
sich ins Internet ein.
Noch vor 15 Jahren war die "Virtuelle Hochschule" etwas Besonderes
gewesen. Heute konnte man sich von jedem Computer der Welt aus beispielsweise
jede Vorlesung der Friedrich-Alexander-Universität (FAU) Erlangen-Nürnberg
herunterladen.
Paul entschied sich für "Historische und Philosophische Dimensionen
des Austauschs von Wissen zwischen China und dem Westen". Denn er hatte
einmal gelesen, dass die Erlanger Sinologen ein "International Quality
Network" auf diesem Gebiet geschaffen hatten.
Später surfte Paul noch durch die Antikensammlung des Instituts für
Klassische Archäologie. Dort hatte man schon vor fast 20 Jahren begonnen
eines der ersten virtuellen Museen überhaupt aufzubauen. Mittlerweile konnten
sämtliche Kunstwerke der Sammlung von allen Seiten aus im Netz bestaunt
werden. Beim Durchblättern der Links entdeckte Paul plötzlich den
allerneuesten Coup im Internet-Angebot der F AU: Die Geografen hatten gemeinsam
mit den Spezialisten für Grafische Datenverarbeitung ein Programm entwickelt,
mit dem man von jedem Gebäude der Uni aus einen Rundflug über Erlangen
unternehmen konnte. Das Programm zeigte einem die Bauten aus der Luft, und es
erläuterte ihre Entstehungsgeschichte ebenso wie ihre Bedeutung.
Paul W. erinnert sich an die Peter-Pan-Gesehichten seiner Jugend - und flog
los. Zunächst steuerte er das Programm ganz langsam die Östliche Stadtmauerstraße
entlang in nördliche Richtung. Dem langgestreckten Bettenhaus schloss sich
das zentrale Aufnahme-Gebäude des Uni-Klinikums an. In den Keller dort
unten brachte gerade ein Sanitätsfahrzeug einen Verletzten zur " Liegend-Anfahrt".
Weiter nördlich, bis fast zur Schwabach hin, erstreckte sich das gewaltige
Nichtoperative Zentrum (NOZ). In den ersten Bauabschnitt hatten schon 2002 die
beiden Medizinischen Klinken I und II einziehen können. Acht Jahre später
war der zweite Bauabschnitt fertig geworden. Er beherbergte jetzt die Medizinischen
Kliniken III und IV sowie die Dermatologische Klinik, die früher ein wenig
abgelegen an der Artilleriestraße lag.
Am Ende des riesigen NOZ-Traktes bog Paul nach links in westliche Richtung
ab. Er überflog die breite, mit zahlreichen Skulpturen verzierte Grünanlage,
zu der der alte Park der Nervenklinik aus dem vorletzten Jahrhundert geworden
war.
Das Programm steuerte direkt auf die vor einigen Monaten erst fertig gestellte
Hals-Nasen-Ohren-Klinik zu, die man teilweise auf flachere Teile der älteren
Kopfklinik gesetzt hatte So konnte man doppelt so große Stationen schaffen
wie früher üblich, was sich nach den Erkenntnissen der führenden
Erlanger Pf lege- Akademie als zweckmäßig erwiesen hatte.
02 Virtuelle Flugreise zu den Neubauten
Über dem Dach der HNO- / Kopfklinik änderte Paul erneut
seine Richtung. Er besichtigte noch den neuen Chirurgischen Operationstrakt
am Maximiliansplatz. Irgendwo dort, so hatte man ihm erzählt, war ein früheres
Wahrzeichen Erlangens gestanden: Das alte Bettenhochhaus, das 2006 abgerissen
worden war.
Ziemlich modernes Klinikum hier, dachte sich Paul, obwohl er natürlich
wenig Vergleichsmöglichkeiten hatte. Doch sicher war: Kaum ein benutzter
Klinikbau in Erlangen stammte noch aus dem letzten Jahrhundert. Zu den ältesten
Bauwerken der FAU überhaupt zählten die markanten "Philosophen-Türme"
in der
Bismarckstraße, an denen Paul bei einem Spaziergang gestern - mittlerweile
war längst vorgestern daraus geworden - vorbeigekommen war. Direkt daneben,
erhob sich ein gewaltiger Glaspalast - die neue Bibliothek für die Philosophischen
Fakultäten, die zuvor auf einzelne Räume in den "Türmen"
verstreut war. Früher hatte hier einmal das Mathematische Institut gestanden.
02.01 Rund um die Uhr geöffnet
Paul ging wieder ans Fenster: Der Bibliotheks-Neubau müsste
eigentlich hoch genug sein, um ihn aus dem oberen Stockwerk des Bettenhauses
erkennen zu können. Und tatsächlich, genau im Osten erkannte Paul
das hell erleuchtete Hochhaus. Die Zentralisierung der einzelnen Teilbibliotheken
und großzügige staatliche Zuwendungen hatten es möglich gemacht,
dass Ausleihe und Lesesäle rund um die Uhr geöffnet sein konnten.
Überhaupt alles ziemlich modern hier, überlegte Paul. Und er erinnerte
sich: Nach der Anmeldeprozedur in der Protonen-Therapieanlage in der Marie-Curie-Straße
war er über den benachbarten Röthelheim-Campus, ein früheres
Kasernengelände, geschlendert.
Äußerlich waren die uralten Gebäude perfekt restauriert worden,
innen herrschte Hightech pur. Neben Umwelt- und Laserforschung gab es dort beispielsweise
Lehrstühle, die sich mit Bio- und Gentechnik befassten - einer Disziplin,
welche die Automobilindustrie als tragende Säule der Wirtschaft abgelöst
hatte.
Zum Südgelände der Universität hatten ihn seine müden Füße
dann doch nicht mehr bringen wollen. Daher wählte Paul jetzt das ihm inzwischen
vertraute Protonen-Zentrum als Startpunkt für einen virtuellen Flug nach
Süden. Der Neubau des Chemikums tauchte auf, den man in den letzten Jahren
neben dem Biologikum und dem Physikum errichtet hatte. Sämtliche, früher
in der Innenstadt und auf dem Südgelände verstreuten Chemischen Institute
der Universität waren dort in einem höchst funktionalen und geräumigen
Neubau untergebracht.
Später kam Paul beim Neubau für Mathematik und Informatik an der Cauerstraße
vorbei. In einem der letzten freien Waldstücke war dort ein Gebäude
entstanden, das verschiedenen, zuvor verstreuten Lehrstühlen ein gemeinsames
Dach bot.
Auf dem Rückflug fiel Paul eine merkwürdige Anlage auf, die offensichtlich
überwiegend unterirdisch erbaut war: Ein Synchrotron, klärte ihn das
Programm auf. Die Anlage lieferte Röntgenstrahlung von sehr hoher Intensität,
die man zur Analyse der Struktur von Bio- oder Werkstoff-Molekülen einsetzte.
Forscher aus der ganzen Welt pilgerten hierher, um ihre Messungen machen zu
können.
Auch dieses Projekt war Anfang des Jahrhunderts heftig umkämpft gewesen.
Letztlich hatten die konkurrierenden Hamburger Wissenschaftler eingesehen, dass
Erlangen doch der ideale Standort für diese 200 Millionen Euro teure Bundesforschungs-Einrichtung
war.
"Guten Morgen, aufwachen", rief eine freundliche Stimme. Paul schreckte
hoch. Vor ihm flimmerte ein Bildschirmschoner. Irgendwann musste er wohl doch
noch eingeschlafen sein. Die freundliche Schwester brachte ihm das Frühstück,
Nachdem er die gewünschten Eier mit kross gebratenem Speck verzehrt hatte,
zog sich Paul W. an. Der Festakt wartete.
Müde saß er in der ersten Reihe neben einem netten älteren Herrn,
der sich mit "Jasper" vorstellte. Den folgenden Reden entnahm Paul,
dass sein Sitznachbar früher Rektor der FAU gewesen war, vor kurzem seinen
80, Geburtstag gefeiert hatte - und aus diesen beiden Gründen Ehrengast
des Später, während des gemütlichen Teils, traf Paul W. Herrn
Jasper wieder. Der freute sich seinerseits auf ein Gespräch mit dem 10000
Patienten der Protonen-Therapieanlage. Die beiden unterhielten sich sehr lange.
Und dabei wurde Paul vor allem eines klar: Die Konzepte für die meisten
Universitäts-Gebäude, die er in natura und auf seiner nächtlichen
Internet-Reise bestaunt hatte, waren noch unter Jasper entwickelt worden. Doch
tatsächlich gebaut wurden sie erst, nachdem der frühere Rektor in
den Ruhestand gegangen war. Das war 2002 gewesen - just das Jahr, in dem die
Stadt Erlangen ihr 1000-jähriges Bestehen feierte. Seitdem hatte sie ihr
Gesicht gewandelt wie nie zuvor in ihrer Geschichte.
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