Leben in Erlangen heute
01 Man fühlt sich geborgen, aber nicht erdrückt |
01 Man fühlt sich geborgen, aber nicht erdrückt
Liebenswertes über Erlangen: Eine "Großstadt" zwischen Pelzigkeit und Urbanität, und warum es sich hier so angenehm lebt.
Ein Erlanger Nachmittag Ende August. Die Strahlen der Spätsommersonne
lehnen am Bettenhaus auf dem Maximiliansplatz, der beim Bau des Nicht operativen
Zentrums der Uniklinik neu gestaltet worden ist. Gemächlich plaudernd radeln
zwei Verkehrspolizisten den Radweg an der Neuen Straße entlang. Er ist
nicht beschildert, weshalb ihn viele Pedalritter zu Gunsten des neuen Fußwegs
ignorieren. Das scheint die beiden zu beschäftigen, jedenfalls erläutert
der eine seinem Kollegen; "Des is dä Rodweech und des do issäs
Droddoir".
Was steckt in dieser kleinen Szene an Typischem für Erlangen, dessen 1000.
Geburtstag wir heuer feiern?
Erstens: Hier pflügt der medizinische Fortschritt ganze Plätze um.
Zweitens: An der Gemütsruhe der Einwohner kratzt das so wenig wie an der
Hausmacht der Radfahrer.
Drittens: Soweit Sie nicht Polizisten sind.
Viertens: Was nicht beschildert ist, existiert nicht.
Und fünftens: Statt "Gehsteig" sagt man "Trottoir".
01.01 Zwei alte Slogans
Erlangen ist eine angenehme Stadt. Es fällt nicht schwer,
sie zu mögen. Es fällt auch nicht schwer, sie zu verspotten, zu verlassen
und zu vergessen, aber wenn man wiederkehrt, ist man irgendwie beruhigt. Schon
schwerer fällt es, all das triftig zu begründen - außer damit,
dass man hier nun mal zu Hause sei. Warum nur fühlt man sich hier, alles
in allem, so gut aufgehoben? Antwort suggerieren zwei gute alte Slogans der
örtlichen Eigenwerbung: Die Hugenottenstadt sei "offen aus Tradition"
respektive "eine Stadt, die alles hat". Beide klingen so universell
nichtssagend, als stammten sie aus Max Goldts NDW-Klassiker "Wissenswertes
über Erlangen". Und doch ist an beiden etwas dran.
"Offen aus Tradition"? Bevor sich Erlangen binnen 300 Jahren zur Großstadt
mauserte, hatte es erst einmal 700 Lenze lang Zeit, sich zu sammeln - als konstant
winziges Nest im Schwabachtal. Die Pelzigkeit der prähugenottischen Ackerbürger
von damals spürt man heute noch, doch die gewerbliche Dynamik der letzten
300 Jahre - deren Eckdaten bekanntlich 1696 und 1945 lauten und mit Ansiedlungspolitik
zu tun haben - hat sie gleichsam umgegerbt.
01.02 Minderheitenleben gewohnt
Während die 500 Ur-Erlanger zuschauten, wie ihnen ein Thüringer
Architekt im markgräflichen Auftrag ein Asylantenheim für 1000 Franzosen
vor die Nase baute, dürfte es am Tresen im Schwabachtal viel um Tradition
und wenig um Offenheit gegangen sein. Der Ur-Erlanger von heute indes ist das
Minderheitenleben gewohnt, pflegt seine französischen Dialekt-Einsprengsel
und radelt durch eine schilderreiche Innenstadt, in der die Autos dem Gewerbefleiß
weichen mussten.
Kurz gesagt: "Offen" ist Erlangen einfach deshalb, weil man sich hier
in der Rekordzeit von 300 Jahren schon an allerhand gewöhnen musste. Erlangens
Tradition ist in Franken tief verwurzelt, seine Offenheit aber nicht älter
als, sagen wir, die der USA. Kommt ein Fremder an, egal woher, dann denkt man
sich: Aha, noch einer. Und hat er neue Ideen dabei, dann denkt man: Na, bisher
hat's auch nie geschadet.
Diese Form von Offenheit macht das Erlanger Leben angenehm, weil die besten
Seiten von Provinz und Urbanität darin verschmelzen: Man fühlt sich
geborgen, aber nicht erdrückt. Die Welt, so viel ist durchaus klar, dreht
sich nicht um diese Stadt - aber dass sie sich überhaupt dreht, das bleibt
nicht ausgeblendet. Worum, das kann man erforschen, glaubt aber eigentlich auch
nicht, dazu aus Erlangen heraus zu müssen. Nicht umsonst heißt es
unter Siemensianern, in Erlangen weine jeder zwei Mal: Wenn er hin- und wenn
er wieder weg müsse. Dass es sich hier in aller Ruhe an Schwimmweltrekorden
basteln lässt oder an der Umwälzung des internetweiten Musikmarktes,
ist jedenfalls erwiesen.
Auch die "freundliche Langeweile", die der Kunsthistoriker Georg Dehio
der Erlanger Altstadt einmal bescheinigte, trägt bei zu dieser Geborgenheit.
Mögen die Marburger am Steilhang schwitzen, die Tübinger ihre Flussfliegen
jagen und die Jenenser im Talkessel nach Luft schnappen - Erlangens Innenstadt
ruht trocken und luftig in der Ebene. Hier latscht es sich so frei und achtlos
dahin wie durch ein großes, protestantisch-nüchtern möbliertes
Wohnzimmer. Dass man kaum Fachwerk sieht, ist schade, aber ein Abend im lauschigen
Carree-Innenhof oder ein Spaziergang durch die Gässchen zwischen Lutherplatz
und Schwabach entschädigen für vieles. Nur jene Schildermasten, die
allen Ernstes den Weg zum Stadtmuseum oder Botanischen Garten weisen, stimmen
beklemmt. Etwa so wie eine Stube mit ausgeschildertem Couchtisch.
Heimelig mutet es auch an, die Planstadt als barocke Kulissenlandschaft wahrzunehmen.
Fast immer treten auf: Der Jazzpianist mit der grauen Mähne, radelnd. Der
OB, auch radelnd, aber mit Helm.. Der Mann vom E-Werk-Verein, Fahrräder
reparierend. Der Zeitungsfotograf, am Stativ schraubend. Der akademische Sandler
mit der indezenten Wortwahl, fluchend. Der freundliche Herr von der Buchhandlung,
grüßend - und zwar den Seniorstudenten an der Grabbelkiste, remittierte
Erlangen Chroniken vergleichend. Nur am Dienstag nach Pfingsten spielt das Bauensemble
selbst die Hauptrolle: Dann ist es leer gefegt.
Denn auf verlässlichen Koordinaten beruht nicht nur der Tagesablauf in
der Altstadt, sondern der ganze Erlanger Jahresrhythmus zwischen Bergkirchweih,
Karpfenzeit, Semesterbeginn, Weihnachtsmarkt, Fasching, Schwabach-Hochwasser,
Spargelzeit, dem nächsten Semesterbeginn und der nächsten Bergkirchweih.
Diese ist Erlangens eigentlicher Karneval und gilt als "Fünfte Jahreszeit".
Das hat seine tiefe Richtigkeit: Denn wenn der Erlanger, gleich welchen Alters,
wieder einmal seine schlecht eingeschenkte Pfingstmaß in den Lampionhimmel
hebt und so durch die schunkelnde Menge bugsiert, dann kippt sein inneres Kalendarium
zur Seite, und plötzlich ist es wieder 1992 oder 1972 oder noch früher.
Bild folgt:
Erlangens Innenstadt ist autofrei und ruht in der Ebene. Seiner Majestät,
dem Radfahrer, kommt beides zupass. Nicht von allen Pedalrittern geht freilich
eine solch entspannte Ruhe aus wie von diesem.
Foto: Bernd Böhrer
01.03 Mal Karpfen, mal Kultur
Was aber Spargel, Karpfen und Co. Angeht: Da spürt man den
direkten Draht zum Hinterland, und hier sind wir beim Thema "Eine Stadt,
die alles hat". Denn ein Hinterland wie Erlangen muss man erst mal haben.
Da ist zwischen Mai und August immer irgendwo Kirchweih - oder ein Platz am
Baggersee frei. Da kann man klettern, wandern, Hirsche angucken. Die bekannteste
Vorstadt im Erlanger Süden glänzt mit Kompetenzen im Lebkuchen- und
Bratwurstbereich. Und weil es in der Fränkischen Schweiz so viele schöne
Dörfer gibt, findet sich für jedermann ein lebenslanger Stamm- und
Geheimtippgasthof mit Hausbrauerei und Monsterschnitzel für vier Euro.
Das ist Lebensqualität, weshalb das Benzingeld nicht mitzählt.
Dass man die Stadt theoretisch aber kaum verlassen müsste, um sich rundum
versorgt zu fühlen, trägt natürlich auch zum Wohlgefühl
bei. Erlangens Kneipendichte hält den Bayernrekord, die Zahl der Sportvereine
auch, das Kinoprogramm ist üppig und das des Theaters, nun ja, gut durchgelüftet.
Die nächste Oper ist, so die Bahn mitspielt, nur 20 Minuten weit weg. Dass
sich originelle Boutiquen, Galerien und Krimskramsläden aller Sparten in
der einstigen Manufakturstadt auf engem Raum drängen, muss man nicht mehr
hervorheben. Bekannt ist auch, dass dem Rathaus dieser Raum sogar zu eng vorkommt
und dass es die Einwohnerkaufkraft auf ihren Wegen hat observieren lassen wie
einen abtrünnigen Ehegatten bei Nacht.
01.04 Sommerliches Kulturidyll
Der ist schließlich, um im Bilde zu bleiben, der zweitreichste
Gatte im Freistaat. Nun will man anbauen, um ihn an Zuhause zu binden. Doch
auch in einer arkadischen Zukunft völliger Konsum-Autarkie wird sich, so
ist zu hoffen, kein Erlanger strafbar machen, indem er sein Geld nach Nürnberg
trägt oder gar einfach nur das kauft, was er braucht.
In den erwähnten natürlichen Jahreskreis passen sich Erlangens urbane
Errungenschaften harmonisch ein. Dass der Schlossgartenball sowie die europaweit
bedeutsamen Kultur-Events - Comic-Salon, Figurentheater-Festival, "Arena"
und Poetenfest - just in die vier Monate ohne "R" fallen, mag schade
sein für die Gast-Prominenz, weil deren Eindruck von Mittelfranken ohne
Karpfen natürlich lückenhaft bleibt. Wenn die Wetterregie mitspielt,
kann so ein Erlanger Kultursommer dennoch zum schieren Idyll geraten.
Geradezu als Idealbild kunstsinniger. "Massenvergnügung hat die "FAZ"
einmal "Büchertisch und Bratwurstbude" auf dem Poetenfest eingeführt.
Dass der Rezensent die Einheit von Kunst und Leben, wie sie Goethe noch in Italien
gesucht hat, im Erlanger Schlosspark zu finden glaubt, das geht natürlich
runter wie Öl. Denn wenn Gäste kommen möchte man ja ein wenig
protzen können mit der Stadt, in der man lebt. Und das ist für unsereinen
denn doch heikel.
Im knapp 1000-seitigen Deutschland-Baedeker findet Erlangen auf 28 Zeilen statt,
mit je einem Sternchen für Altstadt, Schlossgarten und Bergkirchweih. Gästen
kann man zwar davon erzählen, dass "Elanka" bei Karl May als
orientweit bekannte Bierstadt erwähnt wird, aber erstens wird auch das
einmal langweilig und zweitens lässt sich dann nur schlecht vertuschen,
was vom alten Nimbus heute noch übrig ist.
Auch ein Absatz im italienischen Reiseprotokoll des erwähnten Geheimrats
führt Erlangen auf, Leider taugt er nur als Beleg rar erhöhten Willen
zur Vollständigkeit - und als Erklärung dafür, warum Goethe hier
nie wieder gesehen ward. Bei Platen und Rückert wird's prominenzmäßig
eng, Hegel war auch nicht lange hier - nein, es hilft nichts-. Diese Stadt ist
einfach noch nicht lange genug Stadt.
Doch sei's drum, Geschichte wird gemacht, und solange die Vergangenheit nicht
genug "Wissenswertes über Erlangen" hergibt, hält man sich
einfach an das Liebenswerte. Denn davon gibt es reichlich, und es liegt in der
Gegenwart. Erlangen mag auf dem Papier 1000 Jahre alt und eine Großstadt
sein - in Wahrheit schüchtert es nicht ein, sondern zwingt uns durch sein
Changieren zwischen Provinz und Weitläufigkeit ständig zum inneren
Vergleich. Zwischen dem, was Erlangen gern wäre, dem, was es ist - und
dem, was es noch alles werden könnte. Was seine Bewohner ihren Gästen
in 300 Jahren einmal erzählen können, das wollen wir doch mal sehen.
Bild folgt:
Wohl die intellektuellste Grillparty Deutschland:
Zum Erlanger Poetenfest kommt die Creme der Gegenwartsliteratur.
Foto: Andre De Geare
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